„Nur ein glückliches Kind kann lernen!“

Schulunterricht unter Pandemiebedingungen ist auch nach zwei Jahren noch gewöhnungsbedürftig. Im Interview berichtet Psychologin Dr. Rebekka Martínez Méndez aus dem Beratungsalltag und erklärt, was für Kinder und Jugendliche jetzt wünschenswert ist.  

Dr. Rebekka Martínez Méndez leitet die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Caritas Südniedersachsen. | Foto: Michael Schiwon / Caritas Südniedersachsen
Dr. Rebekka Martínez Méndez leitet die Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Caritas Südniedersachsen. | Foto: Michael Schiwon / Caritas Südniedersachsen

Frau Dr. Martínez Méndez, Sie beobachten unter Schülerinnen und Schülern weiterhin eine deutlich erhöhte psychische Belastung im Vergleich zu Zeiten vor der Pandemie. Anders als im ersten Coronawinter verlief das Schuljahr aber bisher in Präsenz. Wie erklären Sie sich die vermehrten Fälle an psychischen Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen?

Die meisten psychischen Erkrankungen entwickeln sich sehr schleichend. Ständig wechselnde Pandemie-Bestimmungen fordern Jugendliche in ihren psychischen Bewältigungs- und Anpassungsmöglichkeiten enorm heraus. Wir sehen die Folgen der Distanzmaßnahmen. Die Lebenswelten der Jugend sind immer noch oder erneut eingeschränkt. Die Copsy-Studie* belegt, dass die Jugendlichen die Pandemie weiterhin als anstrengend und belastend empfinden. In der Beratungsstelle beobachten wir im Moment eine Zuspitzung der Symptomschwere.

Um welche Symptome handelt es sich?

Unter den depressiven Verstimmungen und Ängsten kommen vermehrt selbstverletzendes Verhalten, lebensmüde Gedanken, schwere soziale Ängste und auch ein gestörtes Schlaf- und Essverhalten vor, auch eine Zunahme der psychosomatischen Symptome. Früher hatten wir immer mal den ein oder anderen Fall mit Suizidgedanken, jetzt gehört die Beratung bei leichten bis moderaten Suizidgedanken und die Erarbeitung von Fertigkeiten und Techniken im Umgang mit heftigen Anspannungszuständen, die mit selbstverletzendem Verhalten oder unkontrollierbarem Essverhalten verbunden sind, zum Beratungsalltag. 

Wie erklären Sie sich das?

Sicherlich hat es auch etwas damit zu tun, dass die kinder- und jugendtherapeutischen Praxen eben wegen den Auswirkungen der Pandemie an ihre Grenzen stoßen und wir mehr Jugendliche betreuen, die eigentlich eine Krankenbehandlung benötigen. Wir versuchen mit angemessenen therapeutischen Methoden die Zeit gut zu überbrücken bis eine ambulante Behandlung bei einem der niedergelassenen Fachkräfte beginnen kann. 

Welche Rolle spielt die Schule?

Der Bildungsauftrag, den die Schulen gerade wegen der vergangenen Schulschließungen sehr ernst nehmen, kommt bei den Lernenden als erhöhter Leistungsdruck an. An vielen Schulen wurden Lernstandserhebungen durchgeführt, um Kompetenzlücken aufzudecken. Sie wurden zwar nicht benotet, führten aber dazu, dass sich Einige zusätzlich unter Druck fühlen. Auch die Zahl der schriftlichen und mündlichen Prüfungen bleibt hoch. Die Anzahl der Klassenarbeiten wurde zwar gesenkt, dennoch werden Tests geschrieben. Der Bildungsauftrag und die seelische Gesundheit sind beides wichtige Ziele für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Offenbar geraten sie in der Pandemie in Konflikt miteinander. Das ist für alle Beteiligten schwierig.

Welche Lösungen kann es geben?

Sowohl individuell als auch strukturell sollte etwas getan werden. Bei Einzelnen hilft schon ein geeigneter Nachteilsausgleich, beispielsweise könnten Ersatzleistungen gewährt oder Pausen-, Arbeits- und Vorbereitungszeiten angepasst werden. Für Schüler mit sozialen Ängsten sollten zur Entlastung – zumindest phasenweise – schriftliche Ersatzleistungen als Alternative zu mündlichen Leistungen in Erwägung gezogen werden. Auch Schulersatzmaßnahmen können bei schweren Verläufen temporär wirksam sein. Sozial- und schulpolitisch brauchen wir möglichst schnell verbindliche Präventionsprojekte zur Vorbeugung von psychischen Krisen im Jugendalter. Vor der Pandemie konnten wir solche Workshops vereinzelt in Schulen anbieten, nur selten wurden wir regelmäßig eingeladen, zur Eindämmung des Infektionsgeschehens sind sie derzeit ganz gestrichen.

Was lernen Jugendliche in solchen Workshops?

Sie lernen zu erkennen, ob sie Hilfe benötigen. Sie erfahren, wo sie Hilfe bekommen und wie sie anderen helfen können. Sie lernen, warum sich psychische Erkrankungen entwickeln und wie ihnen vorgebeugt werden kann. Solche Projekte sollten in allen 8. oder 9. Klassen regemäßig durchgeführt werden, wenn möglich auch in Grundschulen.

Brauchen Schulen besonders sensibilisiertes Personal?

Wichtige Netzwerkpartner für die Beratungsstellen und andere Hilfsangebote sind die Schulsozialarbeiter. Die sollte es flächendeckend geben, auch an Gymnasien. Sie sind mit den Jugendlichen unkompliziert im Kontakt und können krisenhaften Zuspitzungen vorbeugen, indem sie Gespräche anbieten und weiterführende Hilfen organisieren. Eine weitere Chance sehe ich im Ausbau der Nachmittagsbetreuung, gerade an den weiterführenden Schulen.

Warum würde das helfen?

Insbesondere für betroffene Jugendliche aus Risikofamilien ist ein fester Rhythmus, ein verlässlicher positiver Ort, an dem man nicht alleine ist, außerordentlich wichtig. Toll wären Hausaufgaben- und Lerngruppen, die nicht so groß sind wie ganze Klassen. Wenn dann noch Lehrkräfte für Nachfragen da sind, kann das einen enormen Beitrag zur Stabilisierung der Psyche und schulischen Leistungsfähigkeit beitragen. Das Konzept des neuen FamilySchooling-Projekts der Caritas in Duderstadt beinhaltet auch genau diesen Aspekt.

Welche Rolle spielt die Psyche beim Lernen?

Nur ein glückliches Kind kann lernen! Und an der Glücksfront gibt es während der Pandemie insbesondere für Jugendliche große Einbußen. Ein Großteil der weit verbreiteten psychischen Erkrankungen wirkt sich massiv auf die Konzentrationsleistung aus. Wenn es jemandem schlecht geht, nutzt es nichts, das Lernen zu erzwingen. Durch seelischen Druck verschlimmert sich die Situation eher. Gefühle werden im Gehirn im limbischen System verarbeitet. Wenn dieses immer aktiviert ist, etwa bei Angst, dann fehlt die Aktivität im Cortex, wo kognitive Aktivität stattfindet. Wenn ich vor einem Löwen wegrenne, kann ich nicht gleichzeitig Integralrechnung betreiben. Bei depressiven Verstimmungen ist das Denken eingenommen von Sorgen, Ängsten und Unsicherheiten bezüglich der eigenen Person und den eigenen Fähigkeiten. Dann ist es häufig nicht möglich, in einer effizienten Art und Weise einen komplexen Text zu analysieren, weil die Grübeleien alle kognitiven Ressourcen binden.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Johannes Broermann

* Die Copsy-Studie untersucht die Auswirkungen und Folgen der Coronapandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Die Studie wird von der Forschungsabteilung Child Public Health am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf durchgeführt..

Tipps zur Selbsthilfe

Lernende können gemeinsam mit Eltern und Lehrkräften nach Mitteln gegen psychische Krisen suchen. Mit den Schulen sollten Fragen geklärt werden wie:

  • Gibt es Anforderungen, die reduziert werden können?
  • Gibt es bisher unbekannte Freiheitsgrade? Vorübergehend könnte auf bestimmte Aufgaben verzichtet oder eine Zeitgrenze für Hausaufgaben gesetzt werden.
  • Gibt es gute Gründe für eine Auszeit? Welche Möglichkeiten bestehen dafür?
  • Können Lehrkräften und Schulsozialarbeit gezielt unterstützen? Wenn Schwierigkeiten, wie Blackouts auftreten, kann gemeinsam eine hilfreiche Strategie entwickelt werden.
  • Können Lehrkräfte verunsicherten Lernenden häufiger möglichst konkretes Feedback geben? Rückmeldungen vermitteln Sicherheit und motivieren.
  • Lassen sich Lernprozesse durch Lernfreude steuern? Wenn ein Fach gerade Spaß macht, könnte es zum Lernschwerpunkt werden. 

Darauf können Kinder, Jugendliche und Eltern selbst achten:

  • Welche Lernstrategien sind hilfreich? Welche erzeugen noch mehr Stress? Das Lesen von Spickzetteln kann kurz vor der Klausur auf dem Pausenhof auch einfach nur „verrückt“ machen.
  • Wie kann ein guter Rhythmus aus ruhigen Konzentrationsphasen und körperlicher Aktivität gefunden werden? Die Konzentrations- und Lernleistung lässt sich damit nachweislich steigern.
  • Welche Tätigkeiten haben belohnenden Charakter? Wie kann ich Belohnungen in den Alltag integrieren  und  Vorfreude produzieren? Vorfreude auf einen „Serien-Freitag“ mit einer Freundin hilft schon während der Schulwoche.
  • Gibt es gute Erfahrungen mit stabilisierenden Techniken? Was hat bislang in Krisenzeiten geholfen? Bewusstes Atmen, Bewegungspausen oder autogenes Training können helfen.
  • Welche Strategien helfen gegen Grübeleien? Grübeleien über die Vergangenheit oder über Zukunft erzeugen Stress und reduzieren die Konzentrationsleistung für das „Hier und Jetzt“. Ein Ansprechen der Sinne (etwa durch Lieblingsmusik), aufmerksamkeitsbindende Tätigkeiten (wie ein Gesellschaftsspiel) und soziale Interaktion helfen. 

 

Nummer gegen Kummer

Unter der kostenfreien Nummer 116 111 sind europaweit Kummertelefone für Kinder und Jugendliche erreichbar. Dort gibt es auch Auskunft über die nächstgelegene Beratungsstelle.


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